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Eine virtuelle Compenius-Orgel (1) |
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Das nebenstehende Bild zeigt das Äußere einer in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichen Orgel für Hauptwerk mit der Bezeichnung Compenius Opus 1. Ihr Schöpfer ist Dr. Yves Petit-Clerc, der dieses virtuelle Instrument nach ganz eigenen Vorstellungen schuf. Während einige gesampelte Register - vorwiegend die Zungenstimmen - aus authentischen Vorbildern wie der Buzard- und der Casavant-Freres-Orgel (gesampelt von Brett Milan) stammen, haben die wav-Dateien von Pfeifen anderer Register keine reale Entsprechung. Sie entstanden in einem speziellen Vorgang. Dr. Petit-Clerc baute für diesen Zweck eine Mini-Windlade, die von einem sehr stabilen und präzise regulierbarem Luftstrom von 10 Sekunden aus einem speziellen Balg gespeist wurde. Jeweils ein einzige (reale) Pfeife ließ sich damit - nach sorgfältiger Intonation - anspielen und sampeln, wobei die Vorteile auf der Hand liegen: Wegfall jeglicher Trakturgeräusche, niedriger, für die Ansprache einer Pfeife optimierter Winddruck mit geringsten Nebengeräuschen und bis zur Unhörbarkeit reduzierte Raumanteile. Die Einzelaufnahmen umfassten sowohl eigens hergestellte Metall- als auch Holzpfeifen. Erst umfangreiche Nachbearbeitung ließ aus den Einzeltönen ein ganzes Register und im Zusammenwirken mit den "entlehnten" Registern ein spielbares Instrument entstehen. So mussten die wav-Dateien mit Raumanteilen durch Entfernen des Retriggerteiles sorgfältig enthallt und wieder neu geloopt werden. Für den Sample-Satz dieser recht ungewöhnlichen virtuellen Orgel ist eine Übertragung nach HW 2.10 geplant. Er wird dann von Milan Digital Audio (MDA) zu beziehen sein. Dort und bei Virtually Baroque lassen sich auch MP3-Demos der Version für HW1 herunterladen. |
Für seine Methode führt der Erbauer ein ganze Reihe von Argumenten auf. Oberstes Ziel des Sampling-Verfahrens ist ihm eine Lautsprecherwiedergabe, die wie eine Orgel und nicht wie die Aufnahme einer Orgel klingt. Da die Samples ausschließlich monaural vorliegen, geringere Dauer als üblich haben und keinerlei Re-Trigger-Phase für einen Raumanteil enthalten, wird die Gesamt-RAM-Belegung auf etwa 890MByte reduziert, so dass eine 66-Register-Orgel mit drei Manualen tatsächlich in HW1 bzw. als Import auch in HW 2.10 zu spielen ist. Zudem lassen sich die trockenen Mono-wavs sehr viel leichter loopen.
Wer jetzt wegen der nicht einmal in eine Stereobasis "gemappten" Mono-Samples die Stirn runzelt, sollte versuchen, die weiteren Überlegungen nachzuvollziehen: Jede physikalische Pfeife ist ja tatsächlich ein monauraler Klangstrahler; Dreidimensionalität entsteht erst durch Wechselwirkung mit dem umgebenden Raume und deren Wahrnehmung durch beidohriges Hören. Bei entsprechender Auslegung des Wiedergabesystems ist daher durchaus eine interessante räumliche Transparenz zu erreichen, wobei ein solcher Raum selbstverständlich durch künstliche Mittel (Stand-Alone-Geräte, Software) erzeugt werden muss.
Hinzu kommt, dass Dr. Petit-Clerc das elektronische Mischen von Signalen - besonders von solchen, die nicht im Oktav-Verhältnis stehen - kategorisch ablehnt. Die sich mathematisch präzise auswirkende, mehr oder weniger starke Korrelation führt aus seiner Sicht stets zu Nichtlinearitäten. Vermeiden lassen sich diese, wenn Register- und Obertonmischung rein akustisch im Raum erfolgen, weil dieser eine deutlich artefaktärmere Addition erlaubt. In der Praxis setzt dies allerdings mehrkanalige Abstrahlung nach einer definierten Anordnung voraus: Statt Register oder Windladen in einem Lautsprecherkanal zusammenzufassen, werden nur die Oktaven verschiedener Register eingespeist. Gleiches gilt für Stimmen im Terz- oder Quintverhältnis zum Grundton.
Das Resultat weicht zwar völlig vom Abstrahlprofil bzw. der Windladenaufteilung einer realen Orgel ab, zeigt jedoch - so der Erbauer - unübertroffen realistische Wirkung und lässt bei geeigneter räumlicher Verteilung der Lautsprecherkanäle die einkanaligen Samples nicht mehr erkennen. Besonders Mixturen sollen sehr an Transparenz und Durchsichtigkeit gewinnen. Es ist auch einzusehen, dass die Aufteilung der Schallleistung auf mehrere Lautsprecherkanäle der Verzerrungsarmut des Gesamtsystems zu Gute kommt.
Da Mehrkanalwiedergabe mit beliebiger Aufteilung erst nach Übertragung oder Neukonzipierung des Sample-Satzes für HW 2.10 möglich ist, wird man mit der Nachprüfung der beschriebenen Thesen bis dahin warten müssen - vorausgesetzt, man verfügt über alle notwendigen technischen Mittel. Die vorhandenen Demo-Clips entstanden mit HW1 und sind natürlich für zweikanalige, also Stereo-Wiedergabe gedacht. Da hier die Mono-Quelle deutlich zutage tritt, lässt sich die nötige Diffusion im Raume nur mit einer gehörigen Portion künstlichen Nachhalls erzeugen.
Zur klanglichen Seite: Das Instrument lehnt sich im weitesten Sinne an eine Compenius-Orgel aus dem 17. Jh. an und verfügt über eine umfangreiche Anzahl farbkräftiger und kontrastierender Register. Zu den "handgemachten" Stimmen gehören die Blockflöte 8', Pommer 4', Gedeckt 16-8-4', (Holz-)Quintadena 16-8', Cello, Gamba und fast alle kleinen Pfeifen in 2'-Lage und darüber.
Die Opus 1 kommt ausschließlich mit Mono-Samples in zwei Auführungen: dreimanualig plus Pedal mit 66 Registern und zweimanualig plus Pedal mit 53 Registern (für 690MByte RAM-Belegung). Dementprechend gibt es zwei ODFs (die ebenfalls nach HW 2.10 importiert werden können) und zwei virtuelle Spieltische, deren Darstellung mit allen Setzern und Schwellpedalen bei 1024x768 pixels Auflösung an die Grenzen eines 17-Zoll-Schirmes stoßen dürften. Positiv anzumerken: Endlich einmal ist die Zuordnung von Registern und Manualen zu den einzelnen Werken klar erkennbar!
Opus 1 mit 53...
...und mit 66 Registern
Bilder in Originalgröße bitte direkt von den MDA-Webseiten laden. Dort findet sich auch eine Dispositionstabelle.
Dr. Petit-Clerc sieht sein Projekt nicht unter ausgesprochen kommerziellem Aspekt. Der Erlös aus dem Verkauf des Sample-Satzes wird für die Entwicklung der Opus 2, einer noch größeren Compenius-Orgel, verwendet.
Über eigene Erfahrungen berichtet Orgelbits auf der Seite "Eine virtuelle Compenius-Orgel (2)" .