Die Cavaillé-Coll-Orgel in Mainz-Bretzenheim
Die wechselvolle Geschichte der um 1876 für eine Pariser Kirche gebauten Orgel von Aristide Cavaillé-Coll ist auf der Webseite von OrganART Media nachzulesen. Im Dezember 1999 fand sie dann in der Kirche der St. Bernhard-Gemeinde in Mainz-Bretzenheim eine neue Heimat. Und nun gibt es sie auch im Hauptwerk-Format.
Ist das Instrument schon an sich in Deutschland einmalig, so kommt noch die Besonderheit hinzu, dass es eine Zeit lang in der Werkstatt des französischen Orgelbaumeisters als Testobjekt für neue Techniken diente und damit eigentlich den Stand von 1890 repräsentiert. Es gehört auch nicht zu den vom der Disposition her großen Orgeln des "Facteurs d' Orgue" und passt daher so recht zu den heutigen Rechnern mit ihrer noch relativ begrenzten Hauptspeicherkapazität - Grund genug für Prof. Helmut Maier, sich des Instrumentes anzunehmen.
Die Disposition der zweimanualigen Orgel reflektiert die Klangvorstellungen der spätromatischen, oft auch symphonisch genannten Periode. In der Originalversion für HW gibt es insgesamt 15 klingenden Stimmen, die sich auf die Werke Grand orgue mit ihren 4 Prinzipal- und Weitchorregistern, das zungenbetonte Recit expressive (7 Register) und Pedal (4 Register) verteilen. Obwohl keines davon über die 4'-Lage hinaus geht und Aliquoten sowie Mixturen deutschen Stils völlig fehlen, hat man nicht den Eindruck des Mangels. Die Häufung mehrerer differenzierter Grundtonregister in 8'- (und 16'-)Lage und einige andere Stimmen eigener Art hat sich in ihrer Rückwirkung auf Kompositionen für die Orgel als ungeheuer befruchtend erwiesen - man mag sich damit anfreunden oder nicht. Ohne eine gewisse Obertönigkeit kommt freilich auch die romantische Orgel nicht aus; sie wird durch engmensurierte "streichende" 8'-Register wie Gamba und Voix celeste eingebracht. Überdies zeigt das Bretzfelder Instrument auf seine Art die Meisterschaft A.Cavaillé-Colls mit wenigem, aber gut abgestimmten Pfeifenmaterial Farben hoher Verschmelzungsfähigkeit zu erzeugen.

Während die Registernamen für sich selbst sprechen, wäre eine deutsche Übersetzung für die Spielhilfen hilfreich, denn nicht jeder Orgelfreund dürfte mit Begriffen wie Appel und Renvoi d' Anches (Zuschalten/Abwurf aller Zungen) oder Tirasses (ursprünglich Manual-Schiebekoppeln, hier Pedalkoppeln), einschließlich der Abkürzungen auf den Knöpfen wie RG (Renvoi General, Gesamtabsteller) intuitiv zurecht kommen. Ähnliches gilt für die Kürzel der festen Kombinationen (Combinaisons). Abhilfe lässt sich in Eigeninitiative schaffen, indem man die Bezeichnungen in der .organ-Datei enstprechend ändert.
Von Transmissionen, der Zuordnung von einzelnen Registern zu anderen Manualen, wird bei der realen Mainzer Orgel mehrfach Gebrauch gemacht: Bourdon 16' und Flûte harmonique 8' der G.O. sowie Cor de nuit 8' und Viole de gambe 8' im Recit gehören dazu. Sie finden sich auch in der Hauptwerk-Übertragung. Die Zungenstimmen von Meister Cavaillé-Coll sind für ihre weiche Timbrierung bekannt, auch die Trompette trägt den Zusatz "harmonique". Er weist auf doppelt lange Resonanzbecher und damit auf eine klangliche Verfeinerung hin, die sich deutlich vom kurzbecherigen Schnarrwerk anderer Bauepochen unterscheidet. In ähnlicher Weise fügen sich die 16'-Zungenstimmen und die Voix celeste ein; letztere zeigt ihren Schwebungseffekt erst im Zusammenklang mit einem anderen (Prinzipal-)Register.

originale......und erweiterte Version der Orgel in Hauptwerk


Sei noch hinzugefügt, dass das Instrument offensichtlich in fabelhaftem Zustand gesampelt wurde und sich seine Qualitäten schon nach kurzer Zeit beim Ziehen beliebiger Register mitteilen. Wie schon oft angemerkt, kann die eindrucksvolle Linearität in den Tiefen nur über wirklich gute Kopfhörer wiedergegeben werden. Kein Lautsprecher im Wohnzimmer, auch nicht der beste, vermag da mitzuhalten. Noch etwas fällt auf: Man ist von vielen Aufnahmen daran gewöhnt, dass das musikalische Geflecht in den großen französischen Kirchenräumen meist zwar vom Schallpegel her eindrucksvoll, von der Durchhörbarkeit indessen eher blass bleibt. Bei dieser Hauptwerk-Replik geht das Konzept "Mittelgroße Orgel in nicht übermäßig halligem Raum" in überzeugender Weise auf.
Der Erwerber der CD-ROM bekommt eine erweiterte Orgel sozusagen dazu: Durch geschickte Nutzung der Transmissionsmöglichkeiten innerhalb von Hauptwerk ließen sich weitere Stimmen, verteilt auf G.O. und Pedal gewinnen. Ein Nasard 3', ein Octavin 2' sowie eine 16'-Bombarde sind dagegen "echte" aus dem Bestand abgeleitete (und leicht bearbeitete) eigene wav-Dateien. Das erlaubte auch die Hinzufügung weiterer Combinaisons und Koppeln - die Unterschiede sind anhand der virtuellen Spieltische leicht zu erkennen. Wer externe Registerbetätigung per Note-On/Off-Befehl benötigt, sollte sich eine modifizierte .organ-Datei besorgen, da die mitgelieferten mit Program Changes arbeiten. Um die kleine Version mit ihren 15 Registern zu spielen, werden für die in HW 2.10 importierte HW1-Version ein PC mit >1GHz Taktung und 840MB freies RAM vorausgesetzt; die sechs weiteren Register benötigen dann eine mit mindestens 1,6GHz getaktete CPU und 1,1GByte freien Hauptspeicher. Diese Angaben können sich in der für HW 2.10 modifizierten Vollversion ändern.
Mainz ist eine Reise wert; aber wer hat schon Gelegenheit, sich als Nicht-Organist mehrere Stunden mit der Cavaillé-Orgel in der Bretzenheimer Gemeinde zu befassen, um sie kennen zu lernen? Hauptwerk liefert uns eine solche Erfahrung frei Haus - und das ohne zeitliche Begrenzung. An der gelungenen Übertragung wird sich wohl manches Kommende messen lassen müssen. Noch mehr Nähe zum Vorbild z. B. bei der Funktion des Fußschwellers oder des Temulants darf man dann erwarten, wenn die Übertragung dieser Orgel für HW2 vorliegt. Weitaus realistischerer Tremulant, vorbildnaher Schweller und in ihrer Wirkung intonierbare Celeste dürften das Spielvergnügen nochmals um Einiges erhöhen.

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