Die Ducroquet-Cavaillé-Coll-Orgel in Aix-en-Provence
(HW 2)
Nach einer umfangreichen Reihe kleiner bis mittelgroßer Instrumente, die in Form von Samplesätzen mit hoher Originaltreue für HW 1 veröffentlicht wurden, stellt Prof. Helmut Maier in seiner OrganArt Media-Serie nun eine wirklich große Orgel mit ausgesprochen symphonischem Charakter vor. Sie macht sich alle Modelling-Möglichkeiten von HW 2 und sonstige Features zunutze. Das dreimanualige Instrument mit heute 40 Registern wurde 1854 von Alexandre Ducroquet innerhalb eines vorhandenen Gehäuses der Kathedrale Saint Sauveur in Aix-en-Provence gebaut, einer weiträumigen Kirche mit rund 6s Nachhallzeit.
Die Orgel steht an einer Seitenempore und spielt daher nicht in die Längsachse hinein. Im Jahr 1880 erfuhr sie durch Cavaillé-Coll einige Änderungen und Ergänzungen, die bis heute bestehen blieben. Auch danach erfolgten noch schonende Eingriffe, u. a. die Erweiterung des Pedalumfangs, bis schließlich 2002 eine vorläufig letzte Überholung stattfand.
Das Instrument ist besonders interessant, weil es neben seiner offensichtlichen Erhaltungsqualität zwar Züge des Übergangs zur romantisch-symphonischen Periode zeigt, dennoch starke Wurzeln in seiner frühromantischen Disposition hat. So weist es neben einem reichen Vorrat an Zungenstimmen, u. a. mit einer klarinetten-nahen Cromorne, Trompette, Bassonett, Pedal-Bombarde und Clairon die Labialen Sesquialter, eine brilliante Fourniture (5-fach) und eine deutlich "quintige" Plein Jeu-Mixturkombination auf - alles Einzelstimmen und Registerkombinationen, die in der späteren Periode nicht oft zu finden sind oder dunklere Färbung haben. Daher eignet sich das Instrument für die Wiedergabe spätbarocker Literatur ebenso wie für moderne Kompositionen. Es steht auf a1=440Hz.

Wer eine solches Opus in den Rechner lädt, tut es gewiss um dessen Farbenvielfalt optimal auszuschöpfen, dennoch möglichst keine klanglichen Kompromisse einzugehen. Dazu gehören gewisse Minimalvoraussetzungen auf der Rechnerseite: Ein mit 3 GHz getakteten Prozessor (oder die Dual-Core-Entsprechung) ohne jegliche Abschaltung irgendwelcher Funktionen, aber mit verlustfreier Kompression aller Register und mindestens 2,6 GByte freies RAM bei der 40-Register-Version.
Das HW-Instrument ist in der Originalausführung mit 40 und in einer erweiterten Fassung mit 47 Registern ausgestattet. Dabei gibt es einige "echt" hinzugefügte und einige ausgeborgte. Ein klangliches Gegengewicht kann besonders der Basse acoustique 32' im Pedal herstellen; diese Labialstimme wird noch durch einen Soubasse 16' ergänzt. Eine vollständige Aufstellung enthält die Webseite www.organartmedia.com/Aix-Specs.html; dort sind auch Links zu eindrucksvollen Demo-Clips vorhanden.
Die erweiterte virtuelle Orgel ohne Kompression mit allen Registern zu spielen, setzt mindestens 4,3 GByte unbelegtes RAM voraus. Hier werden die Möglichkeiten der Rechnergeneration und eines 64-Bit-Betriebssystems voll ausgereizt - eine gutes Beispiel dafür, wohin sich Hauptwerk bei Großinstrumenten zukünftig hin bewegt. Bei 32-Bit-Windows XP ist der 3-GByte-Switch der Professional Version des Betriebssystems die Voraussetzung.
Was tun, wenn der vorhandene Rechner nicht ausreicht, man das Instrument trotz alledem - wenn auch mit weniger Stimmen - spielen möchte? Für diesen Fall bietet Helmut Maier - wie schon in der Fassung für HW 1 - Tabellen an, nach denen sich Registeranzahl entsprechend den vorhandenen Ressourcen verkleinern lässt. Dabei gibt drei Optionen 1) nicht laden, 2) mit Komprimierung laden und 3. unkomprimiert laden. Wer statt der pdf-Datei das Rechenblatt im xls-Format verwendet, erhält automatisch die resultierende Speicherbelegung. Achtung: Nach dem Transfer der Datei in den Rechner den Schreibschutz entfernen! Wer Excel-Dateien nicht lesen und bearbeiten kann, dem sei Open Office zum Download empfohlen. Die Open-Source-Software kann mit diesem Format umgehen und ist auch sonst für die Textverarbeitung gut zu gebrauchen.
Eine Anmerkung zu den Zeiten, die für Installation und Laden des Sample-Satzes benötigt werden, sei erlaubt: Sie reichen für ein ausgiebiges Mittagsmahl einschließlich Nachtisch, jedenfalls, wenn man nicht über durchsatzsteigernde Anordnungen wie RAID mit mehreren Festplatten verfügt. Daher ist es sinnvoll, sich über eine eventuelle Registerauswahl vor dem Laden Gedanken zu machen, anstatt viel Zeit mit Ausprobieren zu verbringen.
Es lässt sich hörbar nachvollziehen, dass die Übertragung nach HW 2 mit großer Sorgfalt erfolgte; besonders ist die räumliche und klangliche Balancierung insgesamt (d. h. nicht nur der Verlauf der Einzellautstärken der Pfeifen) hervorzuheben. Eine derartige "orgelbauer-nahe" elektronische Intonationsbehandlung eines virtuellen Instruments findet man bisher nicht oft! Wegen der Massierung von Zungenstimmen, die ganz besonders hohe Ansprüche an die Verzerrungsarmut der Konverter stellen, sollten nur ausgesprochen hochwertige Audiokarten zum Einsatz kommen.
Die Einzelsamples haben durchwegs zwischen 1,4 und 2,2MByte Länge. Von den etwa 10s "ungeloopter" Spielzeit entfallen rund 4s auf den Nachhall. Auffallend der Bourdon 16' mit schönen, nicht zu langen Vorläufertönen und kraftvolle Zungen in Gestalt der Trompette-1/2 8' in der Grand Orgue mit gut abgestimmten Resonanzen. Hauptwerk macht's möglich: Die Flûte Harmonique 8' wurde der A. Cavaillé-Coll-Orgel von Mainz-Bretzenheim entnommen, per Impulsantwort aus der Kathedrale dieser angepasst und der Disposition hinzugefügt.
Es gehört schon geschicktes Einteilungsvermögen dazu, einen virtuellen Spieltisch mit über 40 Registern so darzustellen, dass er - auch im Hinblick auf seine Funktion als visuelles und aktives Interface als Touchscreen - noch übersichtlich bleibt. Wie auch anderswo üblich, bietet sich ein zweites Fenster an, dass hier als 'Stop Touch Page Layout' die wesentlichen orgeltypischen Elemente nochmals detailliert, groß in der Proportion und etwas umarrangiert enthält. In diesem Falle sind Definitionsdateien für 15- und 17-Zoll-Schirme enthalten.
Man kann das Instrument in zwei Ausführungen spielen; einmal im Original mit etwas eingeschränktem Tonumfang bei Manualen und Pedal. Die erweiterte Ausführung ist mit C bis g3 und C bis f1 im Pedal kompromisslos ausgelegt. Zusammen mit einigen neu hinzugefügten sowie sechs 'geborgten' Labialstimmmen verfügt man über insgesamt 47 Register.

Gesamtspieltisches der erweiterten Version ...und Stop Touch Page Layout


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Macht ein solcher Spieltisch - übrigens ohne Scrollen auf einem 19-Zoll-Bildschirm darstellbar - nicht sofort Appetit, ein solches Instrument zum Klingen zu bringen? Es ist selbstverständlich, dass es angesichts der Häufung von Spielhilfen gilt, sich einzuarbeiten. Zu den üblichen Normalkoppeln enthält die Grand Orgue eine Suboktav-Koppel. Auf der Stops-Seite wurde neben den Zungen-An/Abstellern und Koppeln für alle Werke noch eine frei programmierbare Setzeranlage mit 16 Plätzen untergebracht. Die Schweller sind nur auf der Hauptseite visuell zugänglich.
Ein Instrument mit solch umfangreicher Disposition wirkt schon von sich aus beeindruckend, noch verstärkt durch lange Nachhallfahnen mit schönem diffusen Strömen in den Raum, die die Mächtigkeit des Klanges nicht nur beim vollen Werk nochmals unterstreichen. Wenn es irgend geht, sollte man auf Mono-Abbildung irgendwelcher Stimmen völlig verzichten, sonst reduziert sich der hallige Raum zu einem dünnen, mittigen Faden. Prof. Maier ist hier gegenüber früheren Samples-Sets noch etwas weiter gegangen und hat die Orgel voll in den Originalraum gestellt. Beim Anhören der Demo-Clips von OrganArt Media wird offensichtlich, dass es Kompositionen gibt, bei denen sich die starke Verzahnung Orgel-Raum positiv auswirkt, und andere, bei dem das Durchhören des musikalisches Geschehens durch die gegenseitige Maskierung nicht unbedingt erleichtert wird.
Dass trotz des kräftigen Hallanteils keinerlei von HW1 bekannte Phasenstöße bei tieferen Lagen und schnellen Repetitionen auftreten, ist der Voraussicht Prof. Maier in Verbindung mit den Eigenschaften von HW 2 zu verdanken, denn er hat gleich bei der Aufzeichnung ausreichend Samples für den Einsatz der Multi-Release und der Multilayer-Technik vorgesehen. Wie schon bei der Fassung für HW 1 angemerkt, hätte vielleicht eine die Stereobasis besser ausnutzende Ladenaufteilung noch Quäntchen mehr an Klangauflösung bewirkt, zumal der Hallanteil die Diffusität noch beeinflusst.
Das Instrument ist geradzu eine Aufforderung, sich mit einem auf die hohen Ansprüche des Sample-Satzes ausgerichteten Rechner auf eine Entdeckungsreise in die detailreichen Farben der Orgel zu begeben. Ein ganz bescheidenes, sich auf wenige Einzelstimmen beschänkendes, vielleicht einem Bergidyll nachimprovisiertes und daher garantiert copyrightfreies Klangbeispiel (24 Bit/44,1 kHz), angepasst an organistischen Fähigkeiten des Autors, gibt es hier.

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