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Theater- und Kino-Orgeln in Hauptwerk spielen |
Pfeifenbestückte Theater- und die nah verwandten Kinoorgeln, hier unter dem Kürzel "TO" zusammengefasst, haben ihre Wurzeln in der Kirchenorgel. Auffallend ist der meist groß dimensionierte, hufeisenförmige Spieltisch, fast immer von den Pfeifenreihen abgesetzt. Diese sind weniger sichtbar; man fasst sie üblicherweise in mindestens zwei Kammern zusammen und baut Perkussionsinstrumente mit dem umfangreichen Schlagwerk frei davor auf.
Um das vorhandene Pfeifenmaterial möglichst klangwirksam zu nutzen, ist bei Theater- und Kinoorgeln das Multiplexprinzip (Unification) gang und gäbe. Dabei sind die Pfeifen nicht einer starren Registerstruktur zugeordnet, sondern bilden den frei verwertbaren Bestand an Stimmen. Ein 8-Fuß-Bourdon kann somit gleichzeitig eine Oktave höher in 4-Fuß-Lage als Flötenstimme erklingen. Bei Sakralorgeln hat man indessen längst gelernt, möglichst völlig darauf zu verzichten. Die Gründe dafür: Wenn nur wenige Pfeifenreihen vorhanden sind, lässt sich eine bereits klingende Pfeife nicht nochmals in anderer Kombination spielen, so dass keine überzeugenden Plenum-Wirkungen zu erreichen sind. Außerdem ist eine "ausgeborgte" Pfeife zwar unbedenklich in einer Oktavkombination, wegen der deutlichen Stimmungsdifferenzen jedoch kaum als Quinte oder Terz - und auch dies nicht in anderer Oktavlage - einzusetzen.
Eine Anmerkung: Die Abbildung wurde einer Werbeschrift der Firma Wurlitzer aus den Dreißiger Jahren entnommen. Bei berechtigten Einwänden gegen die Veröffentlichung ist der Betreiber dieser Seiten zu benachrichtigen. Der gesamte Text ist Copyright des Autors.
Die Aufteilung der Pfeifenreihen auf Kammern folgt im allgemeinen keinen Regeln. Sie sind notwendig, weil man einzelne Register per Schwellpedal und davon gesteuerter Jalousie (Shutter) in ihrer Dynamik und ihrem Obertongehalt beeinflussen möchte.
Im Unterschied zur Kirchenorgel gibt es keine feste Zuordnung bestimmter Register(gruppen) zu einem der Manuale. Im Gegenteil - jedes Register soll ohne Spielhilfen wie Koppeln von jedem Manual erreichbar sein. Außerdem sind obertonverstärkende Maßnahmen wie Mixturen oder Aliquotreihen weitaus seltener wie bei Kirchenorgeln.
Lieber erzeugt man eine bestimmte Klangfarbe oder Imitation eines Orchesterinstrumentes durch unterschiedliche Gestaltung (Mensur) der Pfeifen selbst; bei diesen überwiegt innerhalb der Manuale die 8-Fuß-Lage. Koppeln und freie sowie feste Kombinationen hat die TO ähnlich wie größere Kirchenorgeln. Ein wesentlicher Unterschied zu diesen besteht allerdings in der Anzahl der real vorhandenen Pfeifen.
Dank des Multiplexens verfügt man zwar über viele Register, da sich diese mehrfach aus dem vorhandenen Bestand zusammensetzen, aber die Anzahl der "echten" Pfeifen ist um den Faktor vier bis fünf kleiner. Viel besser eignet sich der Begriff Pfeifenreihen (Ranks) als Bewertungsmaßstab für die Größe einer Theater/Kinoorgel. Eine typische Kinoorgel mit drei Manualen und fünf Ranks wird beispielsweise mit 3m/5 bezeichnet, wobei Effekte nicht zu den Ranks zählen. Für die virtuelle TO im PC hat die Mehrfachnutzung ausgesprochene Vorteile, weil die RAM-Belegung wegen der relativ wenigen notwendigen Samples deutlich geringer ist als bei vielen real vorhandenen Registern aus einzelnen Pfeifen.
Die TO lebt repertoireabhängig vom steten, schnellen Wechsel ihrer Farben während des Spiels, bei dem die musikalische Struktur vorwiegend homophon (Melodie/Solostimmen mit Begleitung) ist. Folgerichtig gibt es Ranks, die so angelegt sind, dass sie sich wegen ihrer Grundlautstärke selbst gegen dick akkordierte Begleitstimmen durchsetzen können; oft bilden sie eine komplette Soloorgel. Das Multiplexing führt dazu, dass selbst eine TO mit nur 5 Ranks eine recht große Anzahl von Registerwippen aufweist. Außerdem kommen noch das meist umfangreiche Arsenal an Perkussion, z. B. Xylophon, Röhrenglocken und Celesta (auch Chrysoglott genannt), oft ein Piano, viel Schlagwerk (Gong, Trommeln) und mehr untermalende Effektklänge hinzu.
Um kurze Akzente zu setzen, ist anstelle eines Registerwechsels häufig die Betätigung des "Second Touch" sinnvoller: Der verstärkte Tastendruck auf einem Manual aktiviert ein vorgewähltes Effektregister. Sofern man dieses Feature nutzen will, sollte die MIDI-gesteuerte virtuelle Orgel daher über eine solche Ausstattung verfügen. Was die Registerbetätigung angeht, stellt - solange es keine vorgefertigten Spieltische für die virtuelle TO gibt - ein berührungsempfindlicher Bildschirm (Touch Screen) wohl die praktischste und vor allem vom Preis her günstigste Lösung dar.
Kein Wechsel von Klangfarben - sei es durch raschen Zugriff auf die gut zugängliche Phalanx von Registerwippen oder durch Schalten von Setzern - kann mit dem Umsteigen auf ein anderes Manual mithalten. Eine größere reale TO ist deswegen häufig mit einer ganzen Wasserfallkaskade von Manualen ausgestattet. Und wenn mancher Organist mit Sorge an die Belastung seiner Wirbelsäule denken mag, so kann es doch als Trost gelten, dass auch das fünfte Manual, einen knappen Meter vor ihm, immer nur für einige Takte gespielt wird.
Die Registerbezeichnungen der TO stimmen in vielen Fällen mit denen der Kirchenorgel überein; manchmal haben sich die Namen geändert, obwohl sie auf denselben Pfeifentyp zurückgehen. So entspricht Diapason dem Prinzipal, also einer Stimme, die jedem Klang das Fundament liefert. Open Diapason betont, dass es sich nicht um eine gedackte (gedeckte) Ausführung handelt (stopped). Stopped Diapason ähnelt dem Gedackt oder Bourdon und hat flötenartigen Charakter mit weniger starken Ansprachegeräuschen (Chiff). Zu den vielseitigsten und unentbehrlichen Farben der TO zählt die Tibia Clausa, meist nur Tibia genannt. Mit ihrer weiten Mensur und dadurch geringen Obertongehalt ist sie der ideale Pfeifentyp für das Multiplexen; sie wird deshalb auch für Aliquoten verwendet.
Selbstverständlich bedient sich die TO auch aller in Kirchenorgeln üblichen Klangerzeuger wie engmensurierte Labiale z. B. als Streicher, Schwebungsregister (Vox Humana) und Zungenstimmen, meist mit ausgeprägt grundtöniger Resonanz (Saxophon).
Zu den ständig benutzten Ausdruckshilfen zählen der oder die Fußschweller (Schwellpedale). Sie setzen den Einschluß einer Pfeifenreihe (zuweilen auch Pedal-Fußlagen) in eine per Jalousie verschließbare Kammer voraus. Wenn die Hände für einen raschen Farbenwechsel nicht mehr ausreichen, lassen sich weitere Schalter (Traps) mit den Füßen betätigen; sie betätigen dann auch Einzeleffekte.
Eine ganz andere Funktion als bei der Kirchenorgel hat der Tremulant; er wird sehr häufig (meist allzu häufig) eingesetzt, um dem sonst statischen Klang eine gewisse Lebendigkeit zu geben. Auch mehrere Tremulanten mit leicht unterschiedlichen Modulationsfrequenzen sind üblich. Sie können Einzelstimmen oder ganze Registergruppen steuern. Einer solchen Massierung kann man eine gewisse Wirkung auf den Zuhörer nicht absprechen, sofern der Effekt nicht ständig eingeschaltet ist.
Wer sich für die fast unübersehbare Vielfalt an Registern und Registerbezeichnungen interessiert, wird mit Sicherheit bei Organstops fündig. Hier hat man - kaum zu verwundern - viele Klangbeispiele aus den Bibliotheken von Sample-Anbietern für Hauptwerk aufgenommen - eine informative Kombination aus Beschreibung und klingenden Beispielen.